Würde, irgendwo
Ein Theaterstück in drei Akten
Gisela und Hans Fritzsche sind ein ganz
normales Ehepaar. Zwei bürgerlich gebildete Menschen bewohnen mit ihrer
heranwachsenden Tochter eine bescheidene Wohnung inmitten einer
durchschnittlichen deutschen Stadt.
Gisela Fritzsche geht ihrer Arbeit als Versicherungskauffrau nach und
Hans - ja, wenn Hans als Schiffbauingenieur nicht arbeitslos wäre...
Während Gisela einen geordneten Tagesablauf hat, während ihre Energie
ständig gefordert ist, sie somit immer in ihrer Kraft und Stärke lebt,
fällt Hans in eine Mut- und Hoffnungslosigkeit.
Schon in der ersten Szene des ersten Aktes sieht man ihn am
Küchenfenster stehen; herausschauend, mit dem Wunsch ein Beispiel zu
finden, dass es anderen Menschen genau so schlecht geht, wie ihm.
In Gisela wächst mehr und mehr das Gefühl heran, Stärke zeigen zu
müssen. Immer mehr stellt sie sich selbst unter den Druck eine
Kampfbereitschaft zu zeigen und ihre Schwächen zu verbergen. Erst in der
zweiten Szene des zweiten Aktes, in der ihre Tochter Carolin ihre
Mutterliebe anzweifelt, zeigt sie Schwäche.
Hans hingegen meint sich durch platte Machosprüche wehren zu müssen. Nur
in Gegenwart anderer versucht er noch für sich und für seine Gefühle
einzutreten. Dies erlebt man in der zweiten Szene, in der Hans sich zwar
gegen den Großvater auf die Seite seiner Frau stellt, aber auch seine
Bedürfnisse zum Ausdruck bringen kann.
In der dritten Szene des ersten Aktes wird deutlich, wie sich die
Lebensumstände des Paars auch in deren Sexualleben auswirkt. Obwohl
Gisela schon in der ersten Szene Andeutungen machte, wird diese Thematik
nun noch einmal durch den Besuch einer Freundin, Silke, zugespitzt.
Diese Freundin des Paares lebt erst seit kurzer Zeit mit ihrem
Lebensgefährten zusammen und kommt zu Besuch, da sie den berechtigten
Verdacht hat, von ihrem Freund betrogen zu werden. Gisela und Hans ist
es inzwischen jedoch nicht mehr möglich, tiefgehender auf dieses Problem
einzugehen, sondern verstecken sich in theoretischer Distanz oder machen
saloppe Bemerkungen. Am Ende der dritten Szene jedoch versucht Gisela
als diejenige, die noch nicht resigniert hat, ihren Mann zum Sex zu
zwingen. Hier entwickelt sich eine Situation, mit der Hans nicht
umzugehen weiß. Er fühlt sich in die Enge gedrängt und sieht nur noch
eine Möglichkeit. Er gibt seiner Frau eine Ohrfeige.
Der zweite Akt beginnt in einem Kellerraum. Die Bühne ist in zwei
Hälften geteilt. Rechts ist der Keller zu sehen und auf der linken Seite
ein Jugendzimmer.
Hans hat durch einen Bekannten eine Heimarbeit bekommen. Er montiert
Kugelschreiber. Diese Arbeit hat er vor allem aus dem Druck heraus
angenommen, damit das Paar sich eine neue Nähmaschine leisten kann.
Gisela ist damit beschäftigt, ihre Wäsche zu waschen. Der Dialog dreht
sich selbstverständlich um die “schmutzige Wäsche” des Vortages. Gisela
ist nach der Ohrfeige gestürzt und hat ein leicht blaues Auge. Nicht
deutlich zu sehen, doch vorhanden. Während Hans weiterhin versucht, das
Thema tot zu schweigen, beginnt Gisela über ihn zu spotten. Während die
beiden sich streiten, kommt deren Tochter Carolin von dem Schulausflug
zurück. Sie bleibt oben in der Wohnung stehen und ruft nach ihrer
Mutter. Genau in dem Moment, in dem Gisela, in Rage gebracht, gegen den
Arbeitstisch tritt und alle Kugelschreiberteile sich über den Boden
verstreuen. Die Eltern sind sich darüber einig, ihrer Tochter nichts von
deren Streit zu erzählen. Deswegen geht Gisela allein nach oben und
bemüht sich, ihr blaues Auge zu verbergen. Carolin ist jedoch mit ihren
eigenen Problemen beschäftigt und bemerkt das blaue Auge ihrer Mutter
nicht.
Während des Gesprächs fällt Gisela ein, dass sie ihren Mann im Keller
eingeschlossen hatte. Beim Öffnen der klemmenden Kellertür geschieht es,
dass diese ihren Mann sehr hart am Kopf trifft und dieser auf die Knie
fällt. Dadurch bekommt Gisela einen Schreck und schließt Hans wieder im
Keller ein.
Wieder oben konfrontiert Carolin ihre Mutter damit, dass sie auf der
Klassenfahrt einen ersten intensiveren sexuellen Kontakt zu einem Jungen
hatte. In der nachfolgenden Diskussion macht Carolin dann ihrer Mutter
den Vorwurf einer falsch verstandenen Mutterliebe, woraufhin diese in
Tränen ausbricht, da sie nun auch das für sie letzte wahre Gefühl
angezweifelt sieht. Erst hier bemerkt Carolin das blaue Auge ihrer
Mutter und fragt, wie es dazu kam. Gisela benutzt eine Notlüge. Auf die
Frage, wo denn der Vater sei, behauptet Gisela, er hätte einen Job
bekommen und sei für einige Tage auf einem Lehrgang.
Währenddessen sieht das Publikum, wie auf der rechten Bühnenseite, im
Keller, Hans Kreislaufprobleme bekommt, zu Boden fällt und dort liegen
bleibt.
Nach der zweiten Szene des dritten Aktes bleibt die Bühne für einen
längeren Moment abgedunkelt. Nur Schritte und Geräusche des täglichen
Lebens sind zu hören, sowie einige kleine banale Dialoge zwischen Mutter
und Tochter. Am Anfang der Szene hört man zusätzlich auf der rechten
Seite Geräusche von fallenden Gegenständen und das Verrücken des Stuhles
und des Tisches. Die Tage verstreichen. Das Ticken einer Uhr ist zu
hören und wird immer lauter. Am Ende der Szene hört man, wie die Tür des
Kellerraumes mit Gewalt aufgestoßen wird. Das Licht im Keller geht an
und die Tochter entdeckt ihren Vater am Boden liegen. Sie stößt einen
Schrei aus und zieht ihn durch die Tür.
Nach der Pause zum dritten Akt schaut das Publikum auf ein Verhörzimmer.
Das Bühnenbild ist noch zurückhaltender. Kaum noch Ausleuchtung. Nur
noch ein Spot in kaltem blau. Auf der Bühne stehen nur zwei einfache
Hocker und ein kleiner Tisch.
Während des Verhörs, das, geführt von einer jungen Kommissarin, erst
ganz sachlich beginnt, wird die Frau immer stärker mit Begriffen wie
Freiheit, Würde und Gerechtigkeit konfrontiert, wobei die Sprache, die
Argumentation - die ganze Situation immer entwürdigender wird. Sie sieht
sich nicht nur dem Vorwurf der Körperverletzung, der unterlassenen
Hilfeleistung und der Freiheitsberaubung konfrontiert, sondern muss auch
ihre intimsten Wünsche, ihre Ängsten und ihr Sexualleben offenbaren. Je
direkter und eindringender die Fragen werden, desto mehr verfällt die
Frau in eine Lakonik.
Zum Ende der Szene gewährt der Kommissar ihr jedoch noch einen Besuch
bei ihrem Mann, der auf der Intensivstation eines Krankenhauses liegt.
Die zweite Szene des dritten Aktes hat ein noch zurückhaltenderes
Bühnenbild, als die erste Szene. Es befinden sich nur noch drei Podeste
auf der Bühne, die von jeweils einem Spot beleuchtet werden. Auf einem
Podest sitzt die Frau, auf einem anderen ein Arzt. Zwischen ihnen liegt,
gleichfalls auf einem dunklen Podest der Mann. Der Arzt und die Frau
sind in leuchtendem weiß gekleidet, der Mann mit einem weißen Laken
zugedeckt. Man hört das Piepen eines medizinischen Gerätes.
Während der Arzt den Befund des Mannes erklärt, nähert sich die Frau
ihrem Mann. Nur ab und zu unterbrochen von Zwischenbemerkungen des
Arztes trägt sie einen langen Monolog über Sehnsüchte, Hoffnungen,
Illusionen und Ängsten vor. Zwischendurch erzählt der Arzt ein
Gleichnis.
Das Stück endet damit, dass der Mann einen Arm um die Hüfte der Frau
legt und sie zu sich zieht.
Der Arzt trennt das Kabel von dem Überwachungsgerät.
Zur Dramaturgie und Inszenierung
Vor jedem Akt wird ein Text vorgetragen. Vor dem ersten Akt erzählt eine
Stimme aus dem Hintergrund von einem Leben in einem kleinen Raum oder
einer Zelle. Hinter dem geschlossenen Vorhang sind dabei die zu diesem
Text passenden Bewegungen des Mannes zu sehen.
Der zweite Akt beginnt mit einem gemeinsamen Vortrag des Paares, wobei
der Mann mehr spricht, als die Frau. Während die beiden diesen Text, der
von einem Traum handelt, sprechen, liegen sie angeschnallt auf zwei
etwas aufgerichteten Betten.
Der Vortrag des Paares endet mit den Worten der Frau: “Ich lernte
niemals Schwimmen in Beton”. Dies beschreibt nicht nur die bedrückende
Situation, in der beide stecken, sondern bezieht sich zugleich auf die
ganz reale räumliche Umgebung in dem Keller.
Vor dem dritten Akt sprechen Frau und Mann einen Dialog in Form von
Sonetten.
Dies soll die noch immer empfundene Zusammengehörigkeit der beiden
verdeutlichen.
Die sprachliche Dramaturgie:
Während des Stücks verändert sich die Sprache. Wenn im ersten Akt noch
in einer normalen Umgangssprache gesprochen wird, so verändert sie sich
im zweiten Akt und in den Dialogen zwischen Frau und Mann zu einer
theatralischeren, künstlerischen Form. Zwar ohne Reime, wird der Text
melodischer. Im dritten Akt dann steigert sich die zu einer lyrischen
Form. Angefangen mit dem streng geregelten Sonett bis zur freien Lyrik.
Dies soll vor allem den Spannungsbogen unterstützen aber gleichzeitig
die Distanz zwischen Bühne und Publikum wahren, damit dieses sich nicht
angegriffen fühlen kann. Es wird somit eine Art “vierter Vorhang”
eingesetzt.
Die Dramaturgie im Bühnenbild:
Während die Sprache immer aufwendiger wird, tritt das Bühnenbild immer
weiter zurück. Während des ersten Aktes ist es noch realistisch. Die
Küche ist als Küche zu erkennen und das Wohnzimmer eindeutig als
Wohnzimmer. Der Umbau ohne Pause von der Küche zur Terrasse, geschieht
dadurch, dass ein Vorhang heruntergelassen wird und künstliche Blumen
sowie die Gartenmöbel aufgestellt werden. Der Umbau zum Wohnzimmer
findet während der Dialoge hinter der Bühne statt.
Der zweite Akt zeigt nur noch die wichtigsten Requisiten. Und im dritten
Akt wird selbst auf diese Verzichtet.
Immer mehr treten die Menschen selbst in den Vordergrund. Ihre Sprache
wird gefühlvoller und melodischer. Die Umwelt spielt eine immer
geringere Rolle.
Zum Ende des Stückes, wo die Umwelt fast ganz verschwunden ist, kommen
sich Mann und Frau wieder näher.
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